Ein gewagtes Experiment.
Eine Oper, die seit fast 300 Jahren nicht aufgeführt wurde. Da empfiehlt es sich, das Einführungsgespräch zu besuchen, um ein wenig über den Hintergrund der Oper, die Interpretation der Regisseurin Sigrid T’Hooft und das Gesamtkonzept zu erfahren. Im Laufe des Gespräches staunt das Publikum immer mehr: Denn nicht nur eine Oper mit Barockmusik wird auf die Bühne gebracht, sondern eine wahre Oper der Barockzeit mit all ihren Facetten: Den Kostümen kommt eine ebenso große Bedeutung zu wie den Gesten, die nicht zufällig gesetzt werden, sondern alle eine tiefere Bedeutung haben. Dies gilt auch für die Mimik. Das Licht simuliert Kerzenschein, die Sänger und Sängerinnen müssen vortreten, um im Licht sein – dieses ändert sich nicht, so wie es eben bei Kerzenschein üblich ist.
Wir sind gespannt. Der Vorhang hebt sich und schon ist man von der auf die Bühne gestellte Welt verzaubert. Der erste Akt dauert 1 Stunde 40 Minuten – und vergeht in rasender Geschwindigkeit. Die barocke Bühnenwelt zieht in ihren Bann – und die Künstler tun das Ihrige dazu. Was für großartige Sänger, insbesondere die Countertenöre. Man darf nicht vergessen, dass der Komponist Broschi der Bruder des legendären Farinellis war – und er schreibt die Arien seinem Bruder auf den Leib. Welche Virtuosität, welche Ausdruckskraft werden deutlich. David Hansen, der den verschollen geglaubten Sohn Epitide darstellt, geht an die Grenzen seiner Möglichkeiten und lässt diese hochemotionale Partie authentisch und empathisch wirken. Eine großartige Leistung. Der etwas windige Anassandro, der ganz in schwarz gekleidet auch eine gewisse Dämonie ausstrahlen soll, steht ihm stimmlich in nichts nach. Was für ein Geschenk, zwei so gleichwertige Countertenöre in einer Produktion hören zu dürfen. Dazu gesellt sich mit Hagen Matzeit ein dritter nicht minder Stimmgewaltiger: Er stellt Licisco, den Botschafter von Ätolien dar – jenes Land, in das Epitide fliehen konnte. Auch die Damen enttäuschen nicht, allen voran Arianna Vendittelli als Argia, jugendlich frisch und stimmlich strahlend. Anna Bonitatibus in der Titelrolle der Königin Merope und Vivica Genaux als Trasimede ergänzen das Ensemble, in dem jedoch klar wird: Die Countertenöre stehen im Mittelpunkt.
Nach dem ersten Akt kommt die Frage auf, ob es wirklich möglich ist, eine ganze Oper in dieser reinen barocken Regie durchzuhalten – einer Regie, die sich konsequent der barocken Formensprache bedient. Und auch der zweite Akt enttäuscht nicht. Hier gibt es mehr „action“, mehr aufregende Handlung – doch der Duktus wird beibehalten. Das entzückende Pierrot und Colombine-Ballett mit großartigen Kostümen als Finale weist darauf hin, dass es bei Barockopern üblich war, auch dieses volkstümliche Element immer mit einzubeziehen.
Am schwächsten gerät der dritte Akt: Die Intention des Dirigenten und Intendanten Alessandro De Marchi, die Oper endlich ungekürzt aufzuführen, ist aus wissenschaftlicher Sicht verständlich. Aus der Aufführungspraxis aber nicht. Einige Striche hätten gutgetan, auch wenn es in barocken Opern üblich ist, dass der dritte Akt dem Lamento gewidmet ist. Doch was zu viel ist, ist zu viel. Vor allem das finale Ballett hat an Schwung und Ideen verloren – eine Straffung wäre sinnvoll gewesen. Doch das soll diesen überaus gelungenen Opernabend eigentlich nicht schmälern – denn eine große Herausforderung galt es zu bewältigen. Der Darsteller des Tyranns Polifonte, einer Schlüsselfigur der Oper, erkrankte – und es gelang, eine Lösung zu finden: Im Orchestergraben sang Carlo Allemano stimmgewaltig und überzeugend – auf der Bühne agierte Daniele Berardi in der schwierigen barocken Inszenierung. Hochachtung vor beiden Künstlern, die durch ihren vollen Einsatz die Aufführung ermöglichten.
Ein Abend in Wagner’scher Dimension – und eine großartige Entdeckung eines verschollenen Meisterwerkes.
Auch zu lesen auf Place de l’Opera.
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Ein gewagtes Experiment.
Eine Oper, die seit fast 300 Jahren nicht aufgeführt wurde. Da empfiehlt es sich, das Einführungsgespräch zu besuchen, um ein wenig über den Hintergrund der Oper, die Interpretation der Regisseurin Sigrid T’Hooft und das Gesamtkonzept zu erfahren. Im Laufe des Gespräches staunt das Publikum immer mehr: Denn nicht nur eine Oper mit Barockmusik wird auf die Bühne gebracht, sondern eine wahre Oper der Barockzeit mit all ihren Facetten: Den Kostümen kommt eine ebenso große Bedeutung zu wie den Gesten, die nicht zufällig gesetzt werden, sondern alle eine tiefere Bedeutung haben. Dies gilt auch für die Mimik. Das Licht simuliert Kerzenschein, die Sänger und Sängerinnen müssen vortreten, um im Licht sein – dieses ändert sich nicht, so wie es eben bei Kerzenschein üblich ist.
Wir sind gespannt. Der Vorhang hebt sich und schon ist man von der auf die Bühne gestellte Welt verzaubert. Der erste Akt dauert 1 Stunde 40 Minuten – und vergeht in rasender Geschwindigkeit. Die barocke Bühnenwelt zieht in ihren Bann – und die Künstler tun das Ihrige dazu. Was für großartige Sänger, insbesondere die Countertenöre. Man darf nicht vergessen, dass der Komponist Broschi der Bruder des legendären Farinellis war – und er schreibt die Arien seinem Bruder auf den Leib. Welche Virtuosität, welche Ausdruckskraft werden deutlich. David Hansen, der den verschollen geglaubten Sohn Epitide darstellt, geht an die Grenzen seiner Möglichkeiten und lässt diese hochemotionale Partie authentisch und empathisch wirken. Eine großartige Leistung. Der etwas windige Anassandro, der ganz in schwarz gekleidet auch eine gewisse Dämonie ausstrahlen soll, steht ihm stimmlich in nichts nach. Was für ein Geschenk, zwei so gleichwertige Countertenöre in einer Produktion hören zu dürfen. Dazu gesellt sich mit Hagen Matzeit ein dritter nicht minder Stimmgewaltiger: Er stellt Licisco, den Botschafter von Ätolien dar – jenes Land, in das Epitide fliehen konnte. Auch die Damen enttäuschen nicht, allen voran Arianna Vendittelli als Argia, jugendlich frisch und stimmlich strahlend. Anna Bonitatibus in der Titelrolle der Königin Merope und Vivica Genaux als Trasimede ergänzen das Ensemble, in dem jedoch klar wird: Die Countertenöre stehen im Mittelpunkt.
Nach dem ersten Akt kommt die Frage auf, ob es wirklich möglich ist, eine ganze Oper in dieser reinen barocken Regie durchzuhalten – einer Regie, die sich konsequent der barocken Formensprache bedient. Und auch der zweite Akt enttäuscht nicht. Hier gibt es mehr „action“, mehr aufregende Handlung – doch der Duktus wird beibehalten. Das entzückende Pierrot und Colombine-Ballett mit großartigen Kostümen als Finale weist darauf hin, dass es bei Barockopern üblich war, auch dieses volkstümliche Element immer mit einzubeziehen.
Am schwächsten gerät der dritte Akt: Die Intention des Dirigenten und Intendanten Alessandro De Marchi, die Oper endlich ungekürzt aufzuführen, ist aus wissenschaftlicher Sicht verständlich. Aus der Aufführungspraxis aber nicht. Einige Striche hätten gutgetan, auch wenn es in barocken Opern üblich ist, dass der dritte Akt dem Lamento gewidmet ist. Doch was zu viel ist, ist zu viel. Vor allem das finale Ballett hat an Schwung und Ideen verloren – eine Straffung wäre sinnvoll gewesen. Doch das soll diesen überaus gelungenen Opernabend eigentlich nicht schmälern – denn eine große Herausforderung galt es zu bewältigen. Der Darsteller des Tyranns Polifonte, einer Schlüsselfigur der Oper, erkrankte – und es gelang, eine Lösung zu finden: Im Orchestergraben sang Carlo Allemano stimmgewaltig und überzeugend – auf der Bühne agierte Daniele Berardi in der schwierigen barocken Inszenierung. Hochachtung vor beiden Künstlern, die durch ihren vollen Einsatz die Aufführung ermöglichten.
Ein Abend in Wagner’scher Dimension – und eine großartige Entdeckung eines verschollenen Meisterwerkes.
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