Im Nebel wandere ich durchs abendlich-dunkle Pötzleinsdorf, betrachte die beleuchteten Häuser und gehe mutterseelenallein durch die leeren Straßen. Bis ich mein Ziel erreiche: Die Villa der Familie Kalbeck. Mitte der 1990er Jahre war ich zum letzten Mal dort, damals waren alle freien Flächen mit Dokumenten und Fotos übersät – Judith Pór-Kalbeck ordnete den Nachlass der Familie. Nun lebt hier ihr Sohn Daniel mit seinem Sohn und haucht der Villa neues Leben in der Tradition der vergangenen Generationen ein. Und ich fühle mich sofort zu Hause und vertraut und erinnere mich plötzlich, dass es damals in den 1990er Jahren vor allem der Geruch war, der dieses Gefühl hervorgerufen hat.

Wir sitzen in der Küche, diskutieren die neue Raumaufteilung und deren Funktionen, sprechen über unsere Vorfahren in Pötzleinsdorf und unser heutiges Leben hier, über unsere Passionen, Arbeit und Familien. Es ist dies unser erstes Zusammentreffen – aber die Verbindung erscheint alt und vertraut. Und das ist sie wohl auch. Unsere Urgroßeltern kannten einander, sie lebten nur wenige Minuten voneinander entfernt. Wir repräsentieren das vergangene Pötzleinsdorf, das uns noch immer verbindet – ein bißchen fühle ich mich wie das Relikt einer völlig vergessenen Welt. Und bin es wohl auch.

Der Friedhof

Am nächsten Tag setze ich meine Forschungsrunden in Pötzleinsdorf fort. Mein erster Weg führt mich auf den Friedhof, wo ich viele meiner Helden finde und mir so manches klar wird. Ein alter jüdischer Herr verkauft seine Villa im April 1938 an den Hausverwalter und stirbt 1942 in Wien. Der erste Impuls ist: Der Ariseur hat die Situation ausgenützt. Aber: Wieso liegt der alte jüdische Herr denn im Grab der angeblichen Ariseure? Er hatte keine Kinder – und in diesem Fall scheinen wohl mitfühlende Nachbarn den alten Herrn geschützt zu haben – und ihn wie ein Familienmitglied in ihrem Familiengrab zur letzten Ruhe gebettet zu haben.

Graustufen sonder Zahl

Ja, es ist eine Geschichte mit vielen Facetten – es gibt wohl auch schwarz-weiß, aber doch auch viele Graustufen. Nachbarn, die sich nicht einschüchtern lassen und die jüdischen Nachbarn selbstverständlich grüßen – sie werden von der Gestapo vorgeladen. Es gibt Freunde, die die Villen pro forma kaufen, um sie vor Plünderungen bewahren – und diese waren in Pötzleinsdorf an der Tagesordnung. Parteifunktionäre erscheinen, beschlagnahmen alles, hinterlassen Quittungen – und lassen diese am nächsten Tag abholen. Jeder Beweis für den Raub ist vernichtet.

Und es gibt die Enkelin der Villenbesitzerin, die für die Nazis als nicht jüdisch gilt und daher die Villa geschenkt bekommt. Hilflos muss sie zusehen, wie ihre Großmutter deportiert wird. Was nützt da die schönste Villa?

Die Polizei filzt im Auftrag der SA systematisch jedes Haus – sie beschlagnahmen, hinterlassen detaillierte Listen, die wohl nicht die Polizisten erstellt haben, denn welcher Polizist damals erkennt einen Ring mit Brillantsplittern? Damen werden verhaftet, zum Straßenwaschen requiriert und 16-Jährige schaffen Waffen aus dem Haus in panischer Angst, dass der Vater sonst erschossen wird.

Ariseure machen sich breit und spielen sich als Hausbesitzer auf. Andere versuchen nach dem Ende des Krieges, die jüdischen Eigentümer anzuschwärzen – der Mythus der sogenannten „Stunde Null“ ist naiv und völlig konträr zur Realität. Es gab diese Stunde Null nicht. Denn niemand wollte die jüdischen Eigentümer, die jüdischen Nachbarn zurück – der Hass, die Denunziationen nahmen 1945 kein Ende, im Gegenteil. Sogar die Rechtsanwälte sind nahe dran zu resignieren vor dem Widerstand, dem oftmals passiven – denn Eingaben einfach zu ignorieren gehört zum System.

Und heute?

Mir wird mulmig. Denn plötzlich erkenne ich, dass das Pötzleinsdorf, in dem ich aufgewachsen bin, eine Blase ist und nichts mit der Realität zu tun hat. Ich ergehe mir das Buch, wandere durch die Straßen, besuche die Gräber am Friedhof, bin in Villen zu Besuch. Und ich schaue und überlege mir, was hier alles passiert ist. Welch großer Freundes- und Bekanntenkreis das Leben geprägt hat – geschäftliche und private Querverbindungen quer über die Straßen. Liebesgeschichten, Geburten und Tod, Geschäftserfolge und Scheitern liegen nahe beieinander, wie es eben eine Gesellschaftsschicht immer mit sich bringt.

Und so komme ich wieder zum Anfang zurück: Dieses Buch macht mir klar, was Pötzleinsdorf einst ausgemacht hat – und genau das will und muss ich erzählen. So viele Menschen in Amerika, Caracas, Bogota, Buenos Aires und wo sonst wo helfen mir, unterstützen mich und sind unglaublich dankbar. Für all sie schreibe ich dieses Buch.

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Im Nebel wandere ich durchs abendlich-dunkle Pötzleinsdorf, betrachte die beleuchteten Häuser und gehe mutterseelenallein durch die leeren Straßen. Bis ich mein Ziel erreiche: Die Villa der Familie Kalbeck. Mitte der 1990er Jahre war ich zum letzten Mal dort, damals waren alle freien Flächen mit Dokumenten und Fotos übersät – Judith Pór-Kalbeck ordnete den Nachlass der Familie. Nun lebt hier ihr Sohn Daniel mit seinem Sohn und haucht der Villa neues Leben in der Tradition der vergangenen Generationen ein. Und ich fühle mich sofort zu Hause und vertraut und erinnere mich plötzlich, dass es damals in den 1990er Jahren vor allem der Geruch war, der dieses Gefühl hervorgerufen hat.

Wir sitzen in der Küche, diskutieren die neue Raumaufteilung und deren Funktionen, sprechen über unsere Vorfahren in Pötzleinsdorf und unser heutiges Leben hier, über unsere Passionen, Arbeit und Familien. Es ist dies unser erstes Zusammentreffen – aber die Verbindung erscheint alt und vertraut. Und das ist sie wohl auch. Unsere Urgroßeltern kannten einander, sie lebten nur wenige Minuten voneinander entfernt. Wir repräsentieren das vergangene Pötzleinsdorf, das uns noch immer verbindet – ein bißchen fühle ich mich wie das Relikt einer völlig vergessenen Welt. Und bin es wohl auch.

Der Friedhof

Am nächsten Tag setze ich meine Forschungsrunden in Pötzleinsdorf fort. Mein erster Weg führt mich auf den Friedhof, wo ich viele meiner Helden finde und mir so manches klar wird. Ein alter jüdischer Herr verkauft seine Villa im April 1938 an den Hausverwalter und stirbt 1942 in Wien. Der erste Impuls ist: Der Ariseur hat die Situation ausgenützt. Aber: Wieso liegt der alte jüdische Herr denn im Grab der angeblichen Ariseure? Er hatte keine Kinder – und in diesem Fall scheinen wohl mitfühlende Nachbarn den alten Herrn geschützt zu haben – und ihn wie ein Familienmitglied in ihrem Familiengrab zur letzten Ruhe gebettet zu haben.

Graustufen sonder Zahl

Ja, es ist eine Geschichte mit vielen Facetten – es gibt wohl auch schwarz-weiß, aber doch auch viele Graustufen. Nachbarn, die sich nicht einschüchtern lassen und die jüdischen Nachbarn selbstverständlich grüßen – sie werden von der Gestapo vorgeladen. Es gibt Freunde, die die Villen pro forma kaufen, um sie vor Plünderungen bewahren – und diese waren in Pötzleinsdorf an der Tagesordnung. Parteifunktionäre erscheinen, beschlagnahmen alles, hinterlassen Quittungen – und lassen diese am nächsten Tag abholen. Jeder Beweis für den Raub ist vernichtet.

Und es gibt die Enkelin der Villenbesitzerin, die für die Nazis als nicht jüdisch gilt und daher die Villa geschenkt bekommt. Hilflos muss sie zusehen, wie ihre Großmutter deportiert wird. Was nützt da die schönste Villa?

Die Polizei filzt im Auftrag der SA systematisch jedes Haus – sie beschlagnahmen, hinterlassen detaillierte Listen, die wohl nicht die Polizisten erstellt haben, denn welcher Polizist damals erkennt einen Ring mit Brillantsplittern? Damen werden verhaftet, zum Straßenwaschen requiriert und 16-Jährige schaffen Waffen aus dem Haus in panischer Angst, dass der Vater sonst erschossen wird.

Ariseure machen sich breit und spielen sich als Hausbesitzer auf. Andere versuchen nach dem Ende des Krieges, die jüdischen Eigentümer anzuschwärzen – der Mythus der sogenannten „Stunde Null“ ist naiv und völlig konträr zur Realität. Es gab diese Stunde Null nicht. Denn niemand wollte die jüdischen Eigentümer, die jüdischen Nachbarn zurück – der Hass, die Denunziationen nahmen 1945 kein Ende, im Gegenteil. Sogar die Rechtsanwälte sind nahe dran zu resignieren vor dem Widerstand, dem oftmals passiven – denn Eingaben einfach zu ignorieren gehört zum System.

Und heute?

Mir wird mulmig. Denn plötzlich erkenne ich, dass das Pötzleinsdorf, in dem ich aufgewachsen bin, eine Blase ist und nichts mit der Realität zu tun hat. Ich ergehe mir das Buch, wandere durch die Straßen, besuche die Gräber am Friedhof, bin in Villen zu Besuch. Und ich schaue und überlege mir, was hier alles passiert ist. Welch großer Freundes- und Bekanntenkreis das Leben geprägt hat – geschäftliche und private Querverbindungen quer über die Straßen. Liebesgeschichten, Geburten und Tod, Geschäftserfolge und Scheitern liegen nahe beieinander, wie es eben eine Gesellschaftsschicht immer mit sich bringt.

Und so komme ich wieder zum Anfang zurück: Dieses Buch macht mir klar, was Pötzleinsdorf einst ausgemacht hat – und genau das will und muss ich erzählen. So viele Menschen in Amerika, Caracas, Bogota, Buenos Aires und wo sonst wo helfen mir, unterstützen mich und sind unglaublich dankbar. Für all sie schreibe ich dieses Buch.

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